SECHZEHN
Ich vermisse Riley. Ich vermisse sie so sehr, dass es mir fast körperlich wehtut.
Sowie ich Sabine sagte, dass Damen nicht zum Abendessen kommen würde (womit ich bis zehn nach acht gewartet habe, als feststand, dass er nicht auftauchen würde), setzten die Fragen ein. Und sie hörten für den Rest des Wochenendes nicht mehr auf, denn sie fragte immer weiter: Was ist los? Ich weiß, dass irgendetwas los ist. Wenn du doch mit mir sprechen würdest. Warum erzählst du es mir nicht? Ist etwas mit Damen? Habt ihr euch gestritten?
Und obwohl ich mit ihr gesprochen habe (beim Abendessen habe ich es irgendwie geschafft, genug zu essen, um sie davon zu überzeugen, dass ich ganz bestimmt keine Essstörung habe) und versucht habe, ihr beizubringen, dass alles in bester Ordnung sei, Damen lediglich zu tun habe und ich übermüdet sei, nachdem ich eine so lange, lustige Nacht bei Haven verbracht hätte. Es war offensichtlich, dass sie mir nicht glaubte - oder zumindest nicht die Behauptung, dass es mir bestens ginge. Dass ich bei Haven übernachtet habe, hat sie allerdings anstandslos geschluckt.
Stattdessen bohrte sie immer wieder nach, dass es doch eine bessere Erklärung für mein ständiges Seufzen und meine Stimmungsschwankungen geben müsse, wenn man sich ansah, wie ich von melancholisch über manisch zu missmutig und wieder zurück wechselte. Doch obwohl ich ein schlechtes Gewissen dabei hatte, sie anzulügen, blieb ich bei meiner Geschichte. Irgendwie erleichterte mir das die Sache, da Sabine zu belügen es einfacher machte, mich selbst zu belügen. Denn ich habe Angst, wenn ich die Geschichte weitererzähle und Erklärungen abgebe, während mein Herz sich weigert, es zu glauben, und mein Kopf sich dennoch mit der Frage quält, ob er mich absichtlich hat sitzen lassen, könnte alles erst endgültig wahr werden.
Wäre Riley noch hier, wäre alles anders. Ich könnte mit ihr reden und ihr die ganze schreckliche Geschichte von vorn bis hinten erzählen. Sie würde mich nicht nur verstehen, sie würde auch die Antworten finden.
Dass sie tot ist, ist wie ein universeller Passierschein, mit dem sie Zutritt hat, wo immer sie auch hin will, einfach indem sie daran denkt. Kein Ort bleibt ihr verwehrt, der ganze Erdball ist ein Spielplatz für sie. Und ich habe keinerlei Zweifel daran, dass sie wesentlich mehr herausfände als ich mit meinen panischen Anrufen und meiner Herumfahrerei.
Denn letztlich hat all meine planlose, stümperhafte, ineffektive Sucherei nur zu einem geführt: zu nichts.
Und so bin ich am Montagmorgen immer noch genauso ahnungslos, wie ich es am Freitagabend war, als alles losging. Und ganz egal, wie oft ich auch Miles oder Haven anrufe, ihre Antwort bleibt immer die gleiche: Nichts Neues, aber wir melden uns, wenn sich irgendetwas tut.
Wenn Riley hier wäre, hätte sie den Fall in null Komma nichts aufgeklärt. Sie würde für schnelle Ergebnisse und erschöpfende Antworten garantieren und könnte mir genau sagen, was los ist und wie es weitergeht.
Doch ich muss mich damit abfinden, dass Riley nicht hier ist. Und obwohl sie mir noch Sekunden, bevor sie gegangen ist, ein Zeichen versprochen hat, zweifele ich langsam daran, ob es je kommen wird. Und vielleicht, nur vielleicht, ist es an der Zeit, dass ich zu suchen aufhöre und mit meinem Leben weitermache.
Ich schlüpfe in eine Jeans, schiebe die Füße in ein Paar Flip-Flops und ziehe erst ein Tank Top und darüber ein langärmeliges T-Shirt an - doch gerade als ich zur Tür hinausgehen und zur Schule fahren will, drehe ich mich noch einmal um und schnappe mir meinen iPod, den Kapuzenpulli und die Sonnenbrille, da ich auf das Schlimmste vorbereitet sein muss, denn ich weiß ja nicht, was mich erwartet.
»Hast du ihn gefunden?«
Ich schüttele den Kopf und sehe zu, wie Miles in mein Auto einsteigt, seine Tasche zu Boden fallen lässt und mir einen mitleidsvollen Blick zuwirft.
»Ich habe versucht, ihn anzurufen«, sagt er und streift sich das Haar aus dem Gesicht. Seine Fingernägel sind nach wie vor leuchtend pink lackiert. »Ich wollte sogar bei ihm zu Hause vorbeifahren, aber ich bin nicht am Tor vorbeigekommen. Und glaub mir, mit Big Sheila legt man sich lieber nicht an. Sie nimmt ihren Job sehr ernst.« Er lacht, in der Hoffnung, die Stimmung aufzulockern.
Ich zucke nur die Achseln und wünsche mir, ich könnte in sein Lachen mit einstimmen, doch ich kann nicht. Ich bin seit Freitag mit den Nerven am Ende, und dagegen hilft nur, Damen wiederzusehen.
»Mach dir doch nicht so viele Sorgen«, sagt Miles und wendet sich mir zu. »Bestimmt ist ihm nichts passiert. Ich meine, es ist schließlich nicht das erste Mal, dass er verschwunden ist.«
Ich sehe ihn an und spüre seine Gedanken, ehe die Worte seinen Mund verlassen. Ich weiß, dass er auf das letzte Mal anspielt, damals, als ich Damen fortgeschickt habe. »Das war anders«, sage ich. »Glaub mir, das war etwas völlig anderes.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?« Sein Tonfall ist abwägend, und er lässt mich nicht aus den Augen.
Ich hole tief Luft und starre auf die Straße, während ich mich frage, ob ich es ihm sagen soll oder nicht. Ich meine, ich habe so lange nicht mehr richtig mit jemandem gesprochen, mich so lange keinem Freund und keiner Freundin mehr anvertraut. Und wenn man all diese Geheimnisse unter Verschluss halten muss, fühlt man sich manchmal ganz schön einsam. Ich sehne mich danach, diese Last abzuschütteln und wieder zu schwatzen wie ein ganz normales Mädchen.
Ich mustere Miles und bin mir sicher, dass ich ihm vertrauen kann, aber überhaupt nicht sicher, ob ich mir selbst traue. Ich bin wie eine Limodose, die heruntergefallen und geschüttelt worden ist, und jetzt sprudeln alle meine Geheimnisse an die Oberfläche.
»Alles klar?«, fragt er und mustert mich aufmerksam.
Ich schlucke schwer. »Am Freitagabend. Nach deinem Auftritt...« Ich halte inne, da ich weiß, dass ich jetzt seine geballte Aufmerksamkeit habe. »Also ... Wir, ähm ... Wir hatten sozusagen Pläne gemacht.«
»Pläne?«
»Große Pläne.« Ich nicke, und ein Lächeln umspielt meine Lippen, das auf der Stelle wieder erstirbt.
»Wie groß?«, fragt er und sieht mich weiterhin unverwandt an.
Ich schüttele den Kopf und schaue auf die Straße vor mir. »Ach, nur ein ganz gewöhnlicher Freitagabend«, sage ich. »Du weißt schon, ein Zimmer im Montage, neue Dessous, mit Schokolade überzogene Erdbeeren und zwei Sektkelche ...«
»O mein Gott, das ist nicht dein Ernst!«, kreischt er.
Ich sehe ihn an und verfolge, wie seine Miene ernst wird, als er die Wahrheit begreift.
»O Gott, ich meine, dann habt ihr es also nicht getan. Ihr seid gar nicht so weit gekommen, weil er ...« Er starrt mich an. »O Ever, das tut mir ja so leid.«
Ich zucke die Achseln und sehe die Verzweiflung, die ich empfinde, auf seiner Miene widergespiegelt.
»Hör mal«, sagt er und greift nach meinem Arm, als ich an einer Ampel anhalte, zieht die Hand aber wieder weg, sowie ihm einfällt, dass ich es nicht mag, von jemand anders als Damen berührt zu werden. Allerdings weiß er nicht, dass das nur deshalb so ist, weil ich jedem unerwünschten Energieaustausch unbedingt aus dem Weg gehen will. »Ever, du bist superhübsch, ehrlich. Ich meine, vor allem jetzt, seit du nicht mehr diese unförmigen Kapuzensweatshirts und diese ausgebeulten ...«Er schüttelt den Kopf. »Jedenfalls bin ich mir absolut sicher, dass Damen dich unter keinen Umständen freiwillig sitzen lassen hat. Ich meine, geben wir's doch zu, der Typ ist total in dich verliebt, das sieht einfach jeder. Und glaub mir, so wie ihr zwei ständig am Knutschen seid, hat das auch jeder mitgekriegt. Es ist völlig ausgeschlossen, dass er sich aus dem Staub gemacht hat!«
Ich würde ihn gern an Romans Behauptung erinnern, er hätte Damen davonrasen sehen, und ihm erzählen, dass ich das schreckliche Gefühl habe, Roman habe etwas damit zu tun - doch gerade als ich es aussprechen will, merke ich, dass ich das nicht kann. Ich habe keinerlei Anhaltspunkte dafür, keinerlei Beweise.
»Hast du die Polizei verständigt?«, fragt er auf einmal ganz ernst.
Ich presse die Lippen aufeinander und spähe zu der Ampel, während ich mich dafür verwünsche, dass ich tatsächlich die Polizei verständigt habe. Dabei weiß ich genau, wie ungehalten Damen, wenn sich alles in Wohlgefallen auflöst und er heil wieder auftaucht, darüber sein wird, dass ich solche Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt habe.
Aber was hätte ich denn machen sollen? Ich meine, wenn er in einen Unfall oder irgendwas verwickelt war, wären die Cops ja wohl die Ersten gewesen, die davon erfahren hätten. Also bin ich am Sonntagmorgen zum Revier gefahren und habe eine Vermisstenmeldung aufgegeben, indem ich sämtliche üblichen Fragen beantwortet habe: männlich, weiß, braune Augen, braunes Haar ... Bis wir zu seinem Alter kamen und ich mich beinahe verschluckt hätte, als ich kurz davor war zu sagen: Ahm ... Er ist ungefähr sechshundertsiebzehn Jahre alt.
»Ja, ich habe ihn als vermisst gemeldet«, sage ich schließlich, trete fest aufs Gas, sowie die Ampel grün wird, und sehe zu, wie der Tacho in die Höhe schießt. »Sie haben alles aufgenommen und gesagt, sie würden sich darum kümmern.«
»Das war alles? Soll das ein Witz sein? Er ist noch minderjährig, er ist kein Erwachsener!«
»Ja, aber er ist juristisch für volljährig erklärt worden. Das ändert alles, denn damit ist er vor dem Gesetz für sich selbst verantwortlich und noch einiges andere, was ich nicht so ganz verstanden habe. Außerdem habe ich sowieso keine Ahnung von den Ermittlungsmethoden der Cops, die haben mich ja schließlich nicht in ihre Pläne eingeweiht«, sage ich und verlangsame die Fahrt, da wir nun das Umfeld der Schule erreicht haben.
»Meinst du, wir sollen Flyer verteilen? Oder eine Mahnwache mit Kerzen abhalten, so wie im Fernsehen?«
Mein Magen verkrampft sich bei seinen Worten, obwohl ich weiß, dass das nur Ausdruck seines gewohnt dramatischen, aber gutmütigen Naturells ist. Doch bis jetzt hätte ich nie vermutet, dass es einmal so weit kommen würde. Ich meine, Damen taucht bestimmt bald wieder auf. Er muss einfach. Er ist unsterblich. Was könnte ihm schon zustoßen?
Und kaum biege ich auf den Parkplatz ein, da sehe ich ihn aus seinem Wagen steigen. Er sieht so cool aus, so sexy, so umwerfend, dass man glauben könnte, es sei alles völlig normal, und die letzten zwei Tage hätten nie stattgefunden.
Ich trete unsanft auf die Bremse, woraufhin mein Auto erst einen Satz nach vorn und dann einen nach hinten macht, was den Fahrer hinter mir zwingt, ebenfalls abrupt auf die Bremse zu treten. Mein Herz rast und meine Hände zittern, als ich sehe, wie mein unfassbar attraktiver und tagelang vermisster Freund sich so gezielt, so akkurat und mit solch absoluter Konzentration mit einer Hand durch die Haare fährt, dass man meinen könnte, das wäre seine wichtigste Aufgabe.
Damit hatte ich nicht gerechnet.
»Was zum Teufel?«, kreischt Miles und starrt Damen an, während massenhaft Autos hinter uns hupen. »Und warum parkt er da drüben? Warum parkt er nicht auf dem zweitbesten Platz und hält uns den besten frei?«
Da ich die Antwort auf keine dieser Fragen weiß, halte ich neben Damen an in der Hoffnung, dass er mir die Antworten gibt.
Ich lasse mein Fenster herunter und bin ganz unerklärlich schüchtern und verlegen, als er mich nur kurz ansieht, um sich gleich wieder abzuwenden. »Ähm, ist alles in Ordnung?«, frage ich und zucke zusammen, als er nur kurz nickt und damit meine Anwesenheit lediglich mit der denkbar geringsten Aufmerksamkeit quittiert, die man sich vorstellen kann.
Er greift in den Wagen, schnappt sich seine Tasche und nutzt die Gelegenheit, sich selbst im Fenster auf der Fahrerseite zu bewundern, während ich schwer schlucke und ihn anspreche. »Weil du am Freitagabend irgendwie plötzlich weg warst ... und ich dich das ganze Wochenende weder gefunden noch erreicht habe, da war ich eben ein bisschen beunruhigt. Ich habe dir auch ein paar Nachrichten aufgesprochen, äh ... hast du die gekriegt?« Ich presse die Lippen zusammen und winde mich vor Verlegenheit unter meiner jämmerlichen, ineffektiven und letztlich feigen Befragung.
Du warst irgendwie weg? Ich war ein bisschen beunruhigt?
Wo ich doch eigentlich laut schreien möchte: HEY DU - IN DEN SUPERCOOLEN SCHWARZEN KLAMOTTEN - WAS ZUM TEUFEL IST PASSIERT?
Er schlingt sich die Tasche über die Schulter und sieht mich an. Sein schneller, kraftvoller Schritt schließt die Distanz zwischen uns binnen weniger Sekunden. Doch es ist nur die physische Distanz, nicht die emotionale, denn als ich ihm in die Augen sehe, scheint er meilenweit weg zu sein.
Und gerade als mir bewusst wird, dass ich die Luft angehalten habe, lehnt er sich zum Fenster herein, hält sein Gesicht dicht vor meines und sagt: »Ja. Ich habe deine Nachrichten bekommen. Alle neunundfünfzig Stück.«
Ich fühle seinen warmen Atem an meiner Wange, während mir der Mund offen stehen bleibt und meine Augen seine suchen, nach der Wärme suchen, die sein Blick immer ausstrahlt. Doch ich erschauere, als alles kalt, finster und leer bleibt. Allerdings ist es nicht so wie das mangelnde Erkennen, das ich neulich erleben musste. Nein, das hier ist weitaus schlimmer. Denn wenn ich ihm jetzt in die Augen sehe, ist eindeutig klar, dass er mich kennt - er wünschte nur, dass dem nicht so wäre.
»Damen, ich ...« Mir bricht die Stimme, als hinter mir jemand hupt und Miles irgendetwas Unverständliches vor sich hin murmelt.
Doch ehe ich dazu komme, mich zu räuspern und noch einmal von vorn anzufangen, schüttelt Damen den Kopf und geht davon.